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Wandlungen im nachsowjetischen Raum. Lokale und globale Folgen


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von Elke Kochann
Am 17. Oktober 2008 fand im Allerweltshaus Köln im Rahmen der Reihe „Geschichte und Geschichten“ des Projektes „Erinnern für die Menschenrechte“ die Veranstaltung „Wandlungen im nachsowjetischen Raum. Lokale und globale Fragen“ statt.

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Die Veranstaltung an diesem Freitag begann, bedingt durch den Fahrplantakt der Bahn, einige Minuten später, wofür wir uns an dieser Stelle bei der Geduld der wartenden Teilnehmer noch einmal bedanken wollen.
Traditionellerweise wird vor jedem Vortrag ein Buch aus der Raphael-Lemkin-Bibliothek vorgestellt, so auch dieses Mal von Regine Wittram, die die Veranstaltung eröffnete und moderierte. Das heutige Buch erschien erstmals 1920 und behandelt die Kultur- und Zivilisationskritik Europas. In „Der Papalagi. Die Reden des Südsee-Häuptlings Tuiavii aus Tiavea“ von Erich Scheurmann schildert Häuptlich Tuiavii in elf Reden thematisch untergliederten Reden seine Erfahrungen, die er auf einer Europareise gemacht hat und mit denen er sein Volk vor diesen Dingen warnen möchte. Scheurmann hat den Häuptling auf einer Reise auf die polynesische Insel Samoa kennen gelernt, sein Vertrauen erobert und kam auf diesem Weg zu Aufzeichnungen dieser Reden. In einfacher Sprache kritisiert Tuiavii die Werte Europas und ruft alle primitiven Völker der Südsee dazu auf, „sich von der erhellten Völkern des europäischen Kontinents loszureißen.“ Im Rahmen der Vorstellung wurde auszugsweise aus dem Kapitel über die Zeit vorgelesen, in dem das Verhältnis des Papalagis (sprich: Papalangi; Bedeutung: „der Weiße“, „der Fremde“, „der Himmelsdurchbrecher“) zur Zeit thematisiert wird. Tuiavii beklagt darin, dass der Papalagi stets unzufrieden mit seiner Zeit ist und sich ärgert, dass er nicht mehr davon habe. Der Häuptling sieht die Zeit und ihren Stellenwert in Europa als „schwere Krankheit“ an. In einfachen und wenigen Worten wurde dem zivilisierten Westeuropäer der Spiegel vorgehalten.

Kai Ehlers begann seinen Vortrag im Anschluss mit einer kurzen Selbstvorstellung. Er erklärte, dass das Bedürfnis, sich ein eigenes Bild der Lage in der damaligen Sowjetunion zu machen und hinter den Eisernen Vorhang zu blicken, seine Motivation war, sich mit der Sowjetunion, bzw. Russland näher zu beschäftigen. So zeigte sich mit zunehmendem Verlauf des Vortrages, aber auch der interessanten Diskussion später, dass mit Kai Ehlers ein ausgesprochener Kenner der russischen Verhältnisse gewonnen werden konnte.
In äußerst anschaulicher Weise beschrieb er das, worauf die Veranstaltung hinwies: den „Wandel im nachsowjetischen Raum“. Je länger der Vortrag andauerte, desto deutlicher wurde, dass für eine genaue Darstellung eines Wandels auch eine genaue Kenntnis dessen von Nöten ist, was zuvor herrschte. Der Schwerpunkt – so wurde im Verlauf des Abends immer deutlicher – lag dabei nicht auf der Beschreibung von Militär-, Staats- oder Parteiapparat, sondern auf der der Sozialstruktur und auf einer Vermittlung der damit einhergehenden Mentalität.

So setzte der Vortrag Ehlers bei den Geschehnissen und Tendenzen ein, die sich um das Ende der Sowjetunion hin abzeichneten. Der Umbruch begann – so Ehlers - unter Gorbatschow und den mit Glasnost verbundenen Demokratiebewegungen. Damit verbunden rückte der Markt mit seinen Selbstregulierungskräften immer weiter in den Vordergrund und stand zusehends dem proklamierten Staatssozialismus gegenüber. In diese Entwicklung war auch das 1. Privatisierungsprogramm von Jegor Gaidar und Boris Jelzin 1991 einzuordnen. Dieses war auf Grundlage des 1989 erschienen Berichts des Internationalen Währungsfonds über die sowjetische Wirtschaft erschienen und teilweise sogar wortwörtlich übernommen. Kern dieses Programms war eine Entkollektivierung, da die vorhandene Sowjet- und Kolchosstrukturen als Basis der uneffektiven Produktionsentwicklung in Produktion und Agrarwirtschaft angesehen wurden. Jelzin hatte die Vision von vielen kleinen Kapitalisten, denen er „bereichert euch!“ zurief. Jeder sollte Geld haben können. Der vergleichsweisen wilden Privatisierung unter Gorbatschow war damit Einhalt geboten, Jelzin wollte den Realsozialismus aushebeln, Gorbatschow war ausgebootet.
Unter Jelzin als ersten russischen Präsidenten erlebte Russland daraufhin eine galoppierende Entwicklung und staatliche Betriebe wurden privatisiert. In der Zeit von 1991-1992/93 war das Vermögen der großen staatlichen Betriebe aufgeteilt. Es bestand die Möglichkeit sich als Aktionär in die Betriebe einzukaufen, was diejenigen, die dies schafften, zur Basis der entstehenden Oligarchengruppe werden ließ. Unabhängig davon blieben die mittleren Betriebe unangetastet, bzw. bei den Belegschaften. Jelzin befürchtete zu wenig Arbeitsmotivation und bestand darauf, dass die Bevölkerung die mittleren Betriebe übernimmt.

Um die geschilderte Situation und dieses Dilemma deutlicher zu machen, holte Kai Ehlers weiter aus und beschrieb Entstehung und Struktur der russischen Dorfgemeinschaft. Die Grundstruktur Russlands vom 14. Jahrhundert bis 1917 war demnach die Ambivalenz von einer mächtigen Zentralverwaltung (Moskau) auf der einen, und den selbst verwalteten und versorgenden Dörfern auf der anderen Seite. Ehlers betonte, dass sich auf dieser Basis eine gesamtwirtschaftliche Lebensstruktur in Russland entwickelt hat, die der Entwicklung in Westeuropa entgegensteht. Die mentalen und sozialen Strukturen Russlands haben hier, so Ehlers, ihren Ursprung.

Im Anschluss verwies Ehlers auf das daraus resultierende Problem einer fehlenden eigenverantwortlichen Mittelklasse und zog den Bogen zu Wladimir Putin und Dmitri Medwedew. Beide woll(t)en Russland modernisieren, haben es aber in diesem Sinne bisher noch nicht geschafft. Putin habe Russland ökonomisch zwar stabilisiert, aber im Grunde die Tradition (alles geschieht von oben) fortgesetzt. Diese fehlende Mittelschicht zu etablieren, bzw. zuerst überhaupt ein Bewusstsein dafür in Gang zu setzen wird nach Ehlers eine der Hauptaufgaben von Medwedew sein, wenn er Russland weiter erfolgreich modernisieren möchte. Er muss an dem Grundproblem der familiären Selbstversorgung ansetzen und versuchen, die russische „Selbstgenügsamkeit“ aufzubrechen.

Abschließend verwies Ehlers auf die „Symbiose“, mit der Russland in die globale Transformation eintritt. Aufgrund der Entwicklung kann Russland den Kapitalismus nicht übernehmen und befindet sich nach wie vor in einer Übergangssituation. Ehlers spricht von einem „Hyperindividualisierungsschub“, der sich in Russland abzeichnet und auf die Welt erstreckt und stellt dieser These die Beobachtung entgegen, dass wir in Westeuropa unsere Individualisierung bereist „satt“ haben und sich somit beide Entwicklungen im Grunde kreuzten.

Die anschließende Diskussion wurde intensiv geführt und brachte weitere interessante Aspekte zutage.

So wurde Kai Ehlers unter anderem nach seiner Einschätzung hinsichtlich des Bewusstseins der Menschen gefragt, wie diese die grundsätzlichen Wandlungen verkraften würden. Ehlers bestätigte dies als großes Problem. Die zuvor herrschende Sicherheit, die durch die Dorfgemeinschaft gegeben war, sei nicht mehr vorhanden. Es herrsche nun großer Druck und Unsicherheit vor, sodass jeder der kann weggehe. Eine Anmerkung eines Teilnehmers, dass er viele kennt, die auch, angezogen durch den Aufschwung und Boom - z. Bsp. in St. Petersburg - wieder zurück wollten, wies Ehlers zunächst ab, revidierte sie jedoch anschließend: zurück (in die alte Zeit) will niemand, zurück in das neue Russland wollen viele.

Ebenso bestätigte Ehlers das Problem des Chauvinismus. Es gibt einen hohen Anteil ausländischer Arbeiter, zumeist Zentralasiaten, die die Arbeiten übernehmen, die kein anderer erledigen möchte. Ein weiteres großes Problem sei in diesem Zusammenhang der Umgang mit den Kaukasiern, die stark angefeindet werden. Diese haben durch ihre in der Vergangenheit erhaltenen Handelsprivilegien immer noch Vorteile, worauf die Russen mit einem stark ansteigenden Chauvinismus reagieren.
Auf die Frage bezüglich des nicht vorhandenen Unternehmertums gab Ehlers einen genaueren Einblick in die Gruppe derer, die Kapital haben und diesen Bereich ausfüllen. Dies seien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion genau drei verschiedene Managergruppen: die alten roten Manager, sprich die Direktoren, die jungen Kommunisten, die sich eingekauft haben sowie der Untergrund. Putin hatte versucht die zweite Gruppe zu disziplinieren, wie das Beispiel Michail Chodorkowski gezeigt hat. Ehlers verwies an dieser Stelle auf die Notwendigkeit Putins bei Chodorkowski hart durchzugreifen, um die russischen Rohstoffe längerfristig vor ausländischen Investoren zu schützen.

Interessant war auch die Diskussion hinsichtlich journalistischer Pressefreiheit. Ehlers bewertete die mediale Schilderung dessen in Westeuropa als übertrieben und nicht immer wahrheitsentsprechend. De facto könne man in Russland sagen was man wolle, „es interessiert keinen“. Entgegen der Pressefreiheit herrscht in Russland eine Art Selbstzensur, auf die sich die Medienvertreter freiwillig geeinigt haben, um den Staat in schwierigen Zeiten nicht unnötig anzugreifen. Angesprochen auf den Fall der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja und die Verbindung zu Putin bezweifelte Ehlers eine genaue Verbindung beider. Politkowskaja habe durch ihre Recherchen über Korruption im Verteidigungsministerium und dem Oberkommando der Streitkräfte in Tschetschenien so viele mögliche Feinde gegen sich aufgebracht, dass es eine Unmenge von Personen gäbe, die hinter dem Attentat stecken könnten.

Als eine der letzten Fragen wurde Kai Ehlers noch auf die aktuelle politische Situation angesprochen. Er sieht Russland darin als Vertreter einer multipolaren globalen Organisation, die gegen eine durch die USA vertretene unipolare Organisation steht. Laut Ehlers entsteht (zwangsweise) eine neue ethnische Situation. Russlands Vielschichtigkeit wird durch die angewendeten Schlagwörter deutlich: Ehlers sieht Russland als multipolaren, multikulturellen und multidimensionalen Staat.
Kai Ehlers beschloss den durchaus interessanten Vortrags- und Diskussionsabend mit einer zum Weiterdenken anregenden These: Kaukasuskrieg und aktueller Finanzcrash hängen zusammen: niemand wollte mehr in Dollar handeln. Leider war an diesem Punkt der Diskussion ein Ende beschienen.

Fotos: Adnan Keskin

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